OIB Academy, Steffen Sutter et al.
Letzte Aktualisierung: 16. November 2020
Bei unseren Lehrgängen Spezialist/in Unternehmensorganisation und Experte/in Organisationsmanagement führte die Bestimmung des Hauptastes anhand der Durchlaufs-Häufigkeiten immer wieder zu Problemen. U.a. weil dies in der Fachliteratur unterschiedlich präzise beschrieben wird. Der Exkurs hier soll dies klären helfen.
Bei der Prozessanalyse zeigen sich oft verschiedene Wege alias Pfade, wie ein Prozess durchlaufen werden kann. Diese Wege heissen Prozessvarianten.
Die am häufigsten durchlaufene Prozessvariante wird als Hauptast (oder Haupt-Prozessvariante) bezeichnet. Diese hohe Durchlaufs-Häufigkeit macht den Hauptast besonders interessant für Optimierungen. Wirken sich doch Verbesserungen entlang des Hauptastes positiv auf die entsprechend vielen Durchläufe aus.
Auszug aus „Integrale Prozessorganisation: Strategische und operative Aspekte einer Integralen Prozessorganisation“, Wolfgang W. Liebelt, ISBN-13: 978-3749480470, 1. Ed. 3. September 2019, Seite 235f.
Gemäss Aussage hier von Liebelt (aber auch in anderen Fachbüchern oder Beiträgen ähnlich vorgetragen) ist der Hauptast also relativ einfach und sukzessive erkennbar und berechenbar. Indem man von ODER-Verzweigung zu ODER-Verzweigung geht und dabei immer nur den Ausgang mit der höchsten Häufigkeit (%-Zahl) berücksichtigt.
Wobei diese jeweils höchsten Häufigkeiten pro ODER-Verzweigung miteinander multipliziert dann auch den vergleichsweise höchsten Endwert aller Äste ergeben soll (siehe hierzu auch das von Liebelt angegebene Berechnungsbeispiel). D.h. die Prozess-variante alias Prozess-Ast alias Prozesspfad oder -weg mit dem höchsten Endwert ist dann die am häufigsten durchlaufene und wird deshalb Hauptast genannt (siehe ersten Abschnitt dieses Auszugs).
Das Problem hierbei: Es ist sicherlich vernünftig, die am häufigsten durchlaufene Prozessvariante – also die mit dem höchsten Häufigkeits-Endwert – als Hauptast zu bezeichnen. Allerdings führt das angegebene Vorgehen – bei jeder ODER-Verzweigung immer den Ausgang mit der höchsten Häufigkeit nehmen, dann befinde man sich jeweils auf dem Hauptast – je nach Prozess-Struktur nicht automatisch dazu, sich tatsächlich auf diesem zu bewegen.
Im Praxishandbuch Prozessmanagement der ibo-Schriftenreihe 11. Auflage wird unter dem Abschnittstitel Variantenhäufigkeit Seite 327ff. beschrieben: „Mit Hilfe der an den ODER-Ästen notierten relativen Häufigkeiten kann ermittelt werden, welche der Varianten eines Prozesses am häufigsten durchlaufen wird. Diese Variante nennt man Hauptast […] Den höchsten Prozentsätzen pro Verzweigung folgend, kann der Hauptast in der Prozessdarstellung […] gekennzeichnet werden […]“.
Weiter auf Seite 328: „Wieviele Prozent aller Objekte auf dem Hauptast bearbeitet werden, ergibt sich durch die Multiplikation der […] jeweils höchsten Prozentsätze pro [ODER-] Verzweigung.“
Zu UND-Verzweigungen: „Parallelläufe gehören mit allen Ästen zum Hauptast. Liegt auf dem UND-Ast eine ODER-Verzweigung, dann gehört nur der ODER-Ast mit dem höchsten Prozentwert zum Hauptast.“
Einschränkung: „Zu beachten ist, dass […] diese Regel zur Ermittlung des Hauptastes [bei ODER-Verzweigungen immer die höchste Ausgangshäufigkeit zu nehmen] nicht greift, wenn sich ein zunächst starker %-Strom immer weiter verästelt, so dass das Produkt [das Ergebnis der Multiplikation seiner Prozentzahlen] immer kleiner wird. Kleiner als ein [ursprünglich] schwächerer Ast, der sich aber [in der Folge] nicht weiter teilt.“
Vorläufige Erkenntnis: Die Regel zur Findung des Hauptastes – bei jeder ODER-Verzweigung immer dem Ausgang mit der höchsten Häufigkeit zu folgen – funktioniert scheinbar oft. Aber nicht immer. Weiter ist nicht ganz klar, ob die Behandlung von UND-Verzweigungen alias Parallelläufen wirklich so simpel ist wie hier gerade mal in zwei Sätzen beschrieben.
Als Beispiel soll die folgende Prozess-Struktur dienen:
Der Versuch, nun die auf der ersten Seite dieses Auszugs erwähnte erste Vorgehensregel zu befolgen, führt zu folgenden Fragen:
Bejaht man die 2. Frage, würde sich nach den Vorgehensregeln folgende Berechnung ergeben:
Hauptast = A1 / C1 / E1 = 60% x 60% x 60% = 21.6% Durchlaufs-Häufigkeit.
Daraus entsteht ein Interpretationsproblem: Wie kann dies der Hauptast sein, wenn die Prozessvariante A2 wie direkt erkennbar eine Durchlaufs-Häufigkeit von 40% hat?
Als alternativer Ansatz zum Vorgehen nach der ersten Vorgangsregel bietet sich an, die Häufigkeiten aller Prozessvarianten systematisch tabellarisch zu erfassen:
Aus dieser Tabelle wird ersichtlich, dass die nach den Vorgehensregeln ermittelte Prozessvariante A1/C1/E1 „nur“ die dritthöchste Durchlaufs-Häufigkeit hat (neben A2 ist auch A1/C2 höher) und somit nicht der Haupt-Ast sein kann. Weiter sieht man, dass die Summe der Häufigkeiten (Kontrollsumme) über 100% gehen kann, sobald UND-Verzweigungen im Spiel sind.
Erkenntnis:
Die Vorgehensregel zur Erkenntnis des Haupt-Astes – immer den höchsten Pfad-Häufigkeiten je ODER-Verzweigung zu folgen – ist je nach Prozess-Struktur nicht zuverlässig. Bei starken ODER-Verästelungen des Hauptastes oder wenn UND-Verzweigungen mit enthaltenen ODER-Verzweigungen vorkommen, kann die Anwendung der ersten Vorgehensregel zu einer falschen Bestimmung des Haupt-Astes führen.
Welche Prozess-Variante effektiv der Haupt-Ast ist, lässt sich insgesamt nur durch die Berechnung der Durchlaufs-Häufigkeiten aller Prozess-Varianten zuverlässig ermitteln. Die Prozess-Variante mit der höchsten Durchlaufs-Häufigkeit ist der Haupt-Ast.
Manchmal ist bei einfachen Prozessen auch weniger aufwändig ein „logisches Ableiten“ der Prozess-Variante mit der höchsten Durchlaufs-Häufigkeit möglich.
Empfehlung:
Wirklich sicher ist nur die systematische Berechnung aller Prozessvarianten mit anschliessender Bestimmung des Hauptastes aufgrund der höchsten Gesamthäufigkeit.
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