Ein Rückblick aus aktuellem Anlass
OIB Academy, Steffen Sutter et al.
Letzte Aktualisierung: 13. Februar 2022
Das St. Galler Management Modell der 4. Generation 2017 von Rüegg-Stürm & Grand knüpft wieder an das St. Galler Management Modell der 1. Generation 1972 von Ulrich & Krieg an. Trotzdem ist es aufgrund seiner Erweiterungen nicht leicht einzuordnen.
In unseren Lehrgängen Spezialist/in in Unternehmensorganisation und Experte/in in Organisationsmanagement werden unter anderem Managementmodelle behandelt. Dieser Artikel soll auch unseren Studierenden erklärend helfen, die Entwicklungslinien des St. Galler Management Modells besser zu verstehen.
Rüegg-Stürm & Grand beschreiben dies in ihrem Artikel „Von der 3. Generation zur 4. Generation des St. Galler Management-Modells“ mit dem Untertitel „Was sind die zentralen Neuerungen? Was sollen diese Neuerungen verdeutlichen?“ selbst wie folgt (Auszug der Kapitel 2 und 3):
2. Was ist über alle Generationen des St. Galler Management-Modells gleich geblieben?
Alle bisherigen Generationen des SGMM (Ulrich & Krieg 1972, Bleicher 1991, Rüegg-Stürm 2002) sind wortsprachliche und visuelle Verständnishilfen für eine integrative Perspektive auf Umwelt, Organisation und Management. Die vermittelten Kategorien und ihre Erläuterung verkörpern eine Reflexionssprache, mit deren Hilfe verantwortliche Management-Teams grundlegende Management-Herausforderungen komplexitätsgerecht diskutieren und klären können.
Ein komplexitätsgerechter Umgang mit grundlegenden Management-Herausforderungen nimmt den Voraussetzungsreichtum des Geschehens sowie die Vielfältigkeit und Verwobenheit von darin wirksamen Kausalitäten systematisch ernst. Denn das Geschehen in Umwelt, Organisation und Management ist durch Vielschichtigkeit, Mehrdeutigkeit und zirkuläre Kausalitäten gekennzeichnet. Erkennbar werden darin bestenfalls lose Zusammenhänge und gewisse Muster.
Eindeutige Kausalzuschreibungen sind dagegen problematisch, weil die meisten Ereignisse durch eine Vielzahl von Einwirkungen bedingt sind. Deshalb sind Respekt und Achtsamkeit sowie der Verzicht auf banalisierende Vorstellungen der Steuerbarkeit unerlässlich im Umgang mit organisationaler Komplexität – sozusagen das Markenzeichen einer systemischen Perspektive auf Umwelt, Organisation und Management.
3. Grundlegende Änderungen und Akzentuierungen
3.1. Von einer Gesamtvisualisierung zum integrativen Zusammenspiel von drei Teilvisualisierungen
Der 3. Generation des SGMM liegt eine verdichtete, integrative Darstellung von Umwelt und Unternehmung zugrunde, den beiden zentralen Bezugspunkten jeder Management-Praxis.
Dabei wird die Umwelt mit Hilfe der drei Schlüsselkategorien Umweltsphären, Anspruchsgruppen und Interaktionsthemen zur Darstellung gebracht, die Unternehmung anhand der drei Schlüsselkategorien Prozesse, Ordnungsmomente und Entwicklungsmodi. Management wird zwar thematisiert, aber nicht mit eigenständigen Schlüsselkategorien präzise fassbar gemacht.
Die 4. Generation nimmt demgegenüber wieder konsequent die Logik der 1. Generation auf: Umwelt, Unternehmung und Management sind zwar unmittelbar aufeinander bezogene, aber analytisch zu unterscheidende Gestaltungssphären – Hans Ulrich und Walter Krieg haben diesbezüglich von einem Umweltmodell, einem Unternehmungsmodell und einem Führungsmodell („Führungswürfel“) gesprochen. Auch in der 4. Generation gelangen auf der obersten Auflösungsebene des SGMM alle drei Schlüsselkategorien überblickshaft zur Darstellung. Eine differenziertere Auseinandersetzung mit spezifischen Aspekten von Umwelt, Organisation und Management erfordert allerdings ein „Zooming-in“. Die dabei gewonnene Präzision für Detailaspekte hat unausweichlich den Preis, dass andere Aspekte für einen Moment aus dem Fokus der Aufmerksamkeit entschwinden.
Mit anderen Worten besteht der Preis dieser ausdifferenzierten komplexeren Betrachtung in der 4. Generation genauso wie in der 1. Generation darin, dass die gesamte Modellkonzeption in allen Detailgraden visuell nicht mehr wie in der 3. Generation in einer einzigen Visualisierung zur Darstellung gebracht werden kann, sondern im anspruchsvollen Zusammenspiel von drei Grafiken erschlossen werden muss.
Diese differenziertere Konzeptionalisierung und Darstellungsform erfordert beim Arbeiten mit dem Modell ein sorgfältiges Zusammenwirken von Zooming-in (Fokussierung auf Detailaspekte von Umwelt, Organisation oder Management) und Zooming-out (Fokussierung auf grundlegende Gesamtzusammenhänge zwischen Umwelt, Organisation und Management).
3.2. Von Unternehmung zu Organisation
Die 3. Generation spricht im Wesentlichen von der Unternehmung (als zentralem Bezugspunkt der Management-Praxis). Im Gedankengang dominiert damit die Vorstellung von privatwirtschaftlich konstituierten, ökonomisch ausgerichteten, marktorientierten Wertschöpfungseinheiten. Die 4. Generation nimmt eine erweiterte Perspektive ein, indem sie sich für alle arbeitsteilig organisierten Wertschöpfungseinheiten interessiert, ob Unternehmung, öffentliche Verwaltung, Non-Governmental Organizations (NGO), Non-Profit-Organisationen (NPO), usw. Die entsprechende Schlüsselkategorie wird deshalb nicht Unternehmung, sondern offener „Organisation“ genannt – nicht im Sinne eines Instruments zum Organisieren, sondern eines komplexen arbeitsteiligen Wertschöpfungssystems. Damit wird wiederum ein Kerngedanke der 1. Generation neu aufgegriffen: Als zentraler Bezugspunkt von Management werden dort zweckorientierte soziale Systeme betrachtet. In der 4. Generation sprechen wir diesbezüglich ganz ähnlich von Organisation als Wertschöpfungssystem.
3.3. Management als eigenständige Schlüsselkategorie
Zentrale Erkenntnisse der neueren Systemtheorie argumentieren dafür, Organisationen als selbstorganisierende Systeme zu betrachten. In selbstorganisierenden Systemen ergibt sich die „Geordnetheit“ des Geschehens aus dem Vollzug des Geschehens selbst. Die 3. Generation des SGMM hat diesen Gedanken stark in den Vordergrund gerückt. Gleichzeitig scheint aber Management für eine erfolgreiche Weiterentwicklung von Organisationen (als selbstorganisierenden Systemen) immer wichtiger zu werden. Wie aber lässt sich das bloss zusammendenken – Selbstorganisation auf der einen Seite versus Management als intervenierende unternehmerische Gestaltungskraft auf der anderen Seite?
In der 4. Generation wird diese vordergründige Paradoxie wie folgt interpretiert: Organisationen manifestieren sich in der Tat als selbstorganisierende, selbst strukturierende Wertschöpfungssysteme, in denen räumlich und zeitlich verteilt an unterschiedlichsten Orten situativ koordinative Leistungen erbracht werden. Gleichzeitig ist es unerlässlich, zur etablierten Wertschöpfung, zur Umwelt, zu diesen selbstorganisierenden Strukturierungsleistungen immer wieder kritisch auf Distanz zu gehen und sich der Frage zu widmen, inwiefern das, was geschieht, wirklich funktional und verantwortbar ist. Genau dann, wenn diese Form der reflektierenden Distanznahme geschieht, findet aus Sicht der 4. Generation des Management-Modells Management statt: Management als reflexive Gestaltungspraxis. Dieses Management-Verständnis wird in Kapitel 3 (Rüegg-Stürm & Grand 2017) der 4. Generation des SGMM ausführlich dargelegt und dabei die vielfältigen Aspekte und Voraussetzungen von wirksamem Management diskutiert.
3.4. Kommunikation ist zentral, weil nicht trivial
Den gesamten Ausführungen der 4. Generation liegt eine kommunikationszentrierte Perspektive zugrunde. Damit verbunden sind folgende Vorstellungen:
- Was Menschen denken, ist für das Geschehen in einer Organisation vollkommen irrelevant, solange diese Gedanken nicht artikuliert und in die beobachtbare Kommunikation einfliessen können. Damit wird die Gestaltung von Bedingungen einer offenen, wirksamen und effizienten Kommunikation zu einer zentralen Management-Aufgabe. Was damit konkret gemeint ist, kommt exemplarisch im folgenden Cartoon zum Ausdruck.
- Kommunikation hat nichts mit der „Übertragung“ (Transfer) von „gegebener“ Information, sondern gerade in der Management-Praxis mit der wechselseitig aufeinander bezogenen Erschliessung von Bedeutung und Sinn („Sensemaking“), und das heisst immer auch mit komplexen, nichtsteuerbaren Interpretations-, Zurechnungs-, Aushandlungs- und Bewertungsprozessen zu tun.
- Kommunikation ist damit ein kreativer verteilter Prozess.
Weil alle drei Schlüsselkategorien des SGMM Umwelt, Organisation und Management als kommunikative Prozesse betrachtet werden, ist ein differenziertes Verständnis von Kommunikationsprozessen, von Kommunikationspraktiken und von Kommunikationsplattformen von ausschlaggebender Bedeutung.
3.5. Entscheidungen resultieren aus Kommunikationsprozessen einer gemeinschaftlichen Vergewisserung
Entscheidungen werden oft (gerade in den Wirtschaftswissenschaften) als rationale Wahlakte („rational choices“) betrachtet, die von Individuen intrapsychisch nach Nutzenmaximierungsgesichtspunkten getroffen werden. Ein solches Verständnis von Entscheidungen mag durchaus angemessen sein, wenn wir an Kaufentscheide beim Lebensmittelkauf in einem Einkaufszentrum denken. In Organisationen dagegen zeigt sich die Wirksamkeit von Entscheidungen an der Bindungskraft von Kommunikationen für das Verhalten von Dritten, d.h. inwieweit bestimmte Kommunikationen mit orientierendem, ausrichtendem oder gar festlegendem Charakter als Entscheidungsprämissen in nachfolgenden Kommunikations- und Entscheidungsprozessen tatsächliche Wirksamkeit entfalten. Wird also das, was z.B. in einem Geschäftsleitungsprotokoll als Absichtserklärung formuliert ist, später in der Kommunikation tatsächlich wieder einmal aufgegriffen? Wird darauf Bezug genommen, um ganz konkret ein Projekt zu initiieren, eine Massnahme zu legitimieren, eine Investition zu begründen oder ein wenig erfolgreiches Innovationsprojekt tatsächlich zu stoppen?
In diesem Sinne sind aus einer Managementperspektive Entscheidungen nicht individuelle Wahlakte, sondern höchst voraussetzungsreiche Kommunikationsprozesse (im Modell als Bearbeitungsformen bezeichnet) der „Überführung“ von Ungewissheit in Gewissheit, von Optionen in konkrete Aktionen. Entscheidungen sind Kommunikationsprozesse der Erwirkung von robusten Gewissheiten und Verbindlichkeiten mit kollektiver Selbstbindungswirkung.
Aus diesem Grund bildet die Modellkategorie „Entscheidungspraxis“ (mit den Kategorien Entscheidungsnotwendigkeiten, Bearbeitungsformen und Entscheidungsfähigkeit) neben der Modellkategorie Wertschöpfung einen zentralen Baustein der Schlüsselkategorie Organisation.
(ehem. Links https://www.kalaidos-fh.ch/de-CH/Blogs/Posts/2017/02/uf-1078-St-Galler-Managementmodell-4-Generation-Teil-1-2 und https://www.kalaidos-fh.ch/de-CH/Blogs/Posts/2017/02/uf-1071-St-Galler-Managementmodell-4-Generation-Teil-2-2):
Unternehmensführung
St. Galler Management Modell – 4. Generation Teil 1/2
15. Februar 2017
Generationen von Studierenden und Praktikern haben sich in ihrer Aus- und Weiterbildung mit dem St. Galler Management-Modell beschäftigt oder beschäftigen müssen. Es ist kaum übertrieben zu behaupten, dass Name und Marke „HSG“ mit dieser Modellvorstellung von Management eng verknüpft sind.
Vor mehr als zwanzig Jahren wurde mit dem Namenswechsel aus der Hochschule die Universität St. Gallen und das Kürzel „HSG“ trat etwas in den Hintergrund. Nicht aber das St. Galler Management-Modell, das vor gut zwei Jahren in die 4. Generation seiner Entwicklung eingetreten ist.
Grafik: Die erste Generation des St. Galler Managementmodells setzt Schwerpunkte bei Umweltdimensionen und Bezugsgruppen (Stakeholder)Was ist daran bemerkenswert, ausser der Tatsache, dass das Modell in einigen Jahren sein ehrwürdiges 50-jähriges Jubiläum feiern wird? Auf den ersten Blick ist es das Miteinander von Beständigkeit und Wandel. Die systemorientierte Managementlehre im deutschsprachigen Raum hat mit diesem Modell eine Vorstellung von Führung und Management aus unternehmerischer Sicht erhalten, die seit Beginn durch die konsequente systemorientierte Betrachtung von Umwelt und Organisation geprägt ist.
Generationenweise Integration neuer Aspekte
Mit jeder neuen Generation des Modells wurde dieses Grundmuster auf den Prüfstand gestellt und die aktuellen betriebswirtschaftlichen Erkenntnisse wurden eingearbeitet. So entwickelte sich das Modell von seiner ersten Schwerpunktsetzung auf Umweltdimensionen und Bezugsgruppen (Stakeholder) in den siebziger Jahren zu einer Darstellung integrierten Managements mit systemischer Vertiefung in den Neunzigern. In der dritten Generation schliesslich erhielten die Prozess- und Wandelsicht ihren Platz und im neuesten Anlauf ist insbesondere die Ausweitung auf Management als Praxis bemerkenswert und spiegelt den Lauf der Zeit.
Es ist fast schon vorhersehbar, dass das Modell in einigen Jahren die Erkenntnisse aus der gegenwärtig besonders intensiven Auseinandersetzung mit Geschäftsmodellen, Globalisierung und Digitalisierung integrieren wird.
Unternehmensführung
St. Galler Management Modell – 4. Generation Teil 2/2
22. März 2017
Das St. Galler Managementmodell gehört zu den bekanntesten Managementmodellen. Seit nunmehr bald 50 Jahren hat es in mehreren Entwicklungsgenerationen immer wieder neue Erkenntnisse aufgenommen, wie wir im ersten Teil dieses Beitrages schilderten. Im Folgenden zeigen wir, wie sich das ändernde Verständnis von Führung im St. Galler Managementmodell niedergeschlagen hat.
Das St. Galler Managementmodell der 3. Generation:
Grafik: Die dritte Generation des St. Galler Managementmodells – brauchbar für Theoretiker und Praktiker.Das St. Galler Management-Modell ist in seiner Entwicklung auch ein trefflicher Spiegel der in der Managementlehre beobachtbaren Auseinandersetzung zwischen theoretischer und praxisorientierter Herangehensweise an das Thema Führung: Die erste Generation war unter dem Einfluss von Hans Ulrich ausgesprochen pragmatisch unterwegs und führte auch zu auf die Praxis ausgerichteten Fachbüchern und Lehrmitteln.
Theorielastig statt praxisnah
Unter dem vor kurzem verstorbenen Knut Bleicher konnte man Gleiches eher weniger behaupten; hier – in der zweiten Generation also – dominierte die Theorie und führte zu einer reichlich abstrakten Modellvorstellung. Kein Wunder, wurde sie nach wenigen Jahren von der dritten Generation abgelöst, die Johannes Rüegg-Stürm unter dem Titel „Das neue St. Galler Management-Modell“ in ein Büchlein mit nicht mehr als 100 Seiten verpackte: Wahrlich ein Brevier, und ein für Praktiker und Theoretiker Brauchbares.
Dass die visuellen Darstellungen abstrakter und die Erläuterungen mit der nun vorliegenden vierten Generation wieder theorielastiger geworden sind, ist aus der Sicht der Anwendbarkeit und Übersetzung in die Praxis unseres Erachtens kritikwürdig. Für die Aus- und Weiterbildung im General Management ist der so ausgestaltete Zugang auf Stufe höhere Fachschule, eidg. Fachausweis und Diplom bis hin zur Fachhochschule fachsprachlich nur begrenzt studierendengerecht.
Damit wir hier nicht falsch verstanden werden: Das aktuelle Buch setzt neue Massstäbe in der Auseinandersetzung mit dem Thema Praxis des Managements. Aber eine tatsächlich auf die Praxis ausgerichtete prägnante Einführung fehlt unseres Erachtens noch. Was heute als „Einführung“ bezeichnet wird, eignet sich unserer Meinung nach zu diesem Zweck nur für einen kleineren Teil des Zielpublikums. Ob aus Leser/Anwender- oder aus Positionierungs- und Reputationssicht für die Marke HSG: Weniger könnte hier mehr sein.
Die vorstehende Kritik von Prof. Dr. Ugo Merkli ist vor allem didaktischer Natur. Nicht eine inhaltliche Kritik.
Der im St. Galler Management Modell der 4. Generation vorgenommene Einbezug zum Beispiel der neusten Erkenntnisse der Systemtheorie – hier sind unter anderem die bahnbrechenden Arbeiten des Soziologen Niklas Luhmann zu erwähnen, aber auch die nicht minder beeindruckenden Vorarbeiten des Biophysikers und Kybernetikers Heinz von Foerster, der Neurobiologen Humberto Maturana und Francisco Varela und weiteren – führte auch zum Einbezug neuer Sichtweisen und Begriffe. Welche in der bisherigen Betriebswirtschafts- und Managementlehre bislang bestenfalls punktuell reflektiert werden. Aber zum heutigen Zeitpunkt keinesfalls als integriert bezeichnet werden können.
Es ist das Verdienst von Rüegg-Stürm und Grand, mit dem St. Galler Management Modell der 4. Generation einen Entwurf vorgelegt zu haben, wie eine solche Integration aussehen könnte. Dazu haben sie sich der in didaktischer Hinsicht formulierten Kritik gestellt und nur 2 Jahren nach Veröffentlichung des St. Galler Management Modells der 4. Generation 2017 eine didaktisch überarbeitete Version nachgeliefert:
Um es vorneweg zu nehmen: Ja, die didaktisch überarbeitete Version des St. Management Modells der 4. Generation ist tatsächlich „lesbar“. Im Sinne von nachvollziehbar.
Natürlich ist auch diese Version keine leichte Kost. Aber durch die explizite Ausarbeitung einer an der „klassischen“ Betriebswirtschafts- und Managementlehre orientierten Aufgaben-perspektive und einer davon unterscheidbaren Praxisperspektive, in welcher unter anderem der erwähnte Einbezug der neusten Erkenntnisse der Systemtheorie (Luhmann et al.) erfolgt, lässt sich Bekanntes und Neues besser verorten.
Mit der Öffnung des St. Galler Management Modells für die neusten Erkenntnisse u.a. der Systemtheorie beweisen Rüegg-Stürm & Grand viel Mut. Während die Entwicklung des St. Galler Management Modells in Form der 2. Generation (Bleicher 1991) und der 3. Generation (Rüegg-Stürm 2002) eher einen evolutionären – und damit leichter adaptierbaren – Charakter hatte, ist das St. Galler Management Modell der 4. Generation ein regelrechter „Paukenschlag“ (vielleicht auch ein Weckruf?).
Aber Mut zu haben, gehört zur Tradition der Hochschule St. Gallen HSG. Schon der geistige Vater des St. Galler Management Modells der 1. Generation Hans Ulrich musste offensichtlich über eine gehörige Portion Mut verfügen, als er mit diesem 1972 gegen das etablierte Harzburger Führungsmodell antrat:
Unternehmensführung
Management nach Schweizer Art
Das vieldiskutierte Harzburger Modell bekommt Konkurrenz aus St. Gallen Von Rosemarie Fiedler-Winter
28. Juli 1972, 8:00 Uhr
AUS DER ZEIT NR. 30/1972Von Rosemarie Fiedler-Winter
Wenn ein wohlinformierter bundesdeutscher Manager den Namen Bad Harzburg hört, dann denkt er weniger an geruhsame Spaziergänge als an Netzpläne und graphische Pyramiden. Schuld daran ist das Harzburger Modell, ein viel genanntes Hilfsmittel für die Führungstechnik in Organisationen aller Art – vom Versicherungsbüro bis zum Stahlkonzern.
Seit einigen Monaten wird dieses Modell wieder einmal heiß diskutiert. Kritiker werfen ihm vor allem vor, es sei zu autoritär und vor allem zu starr. Zudem hat das Harzburger Modell Konkurrenz bekommen: Beim 3. Internationalen Managementkongreß in St. Gallen stellte der Wirtschaftsprofessor Hans Ulrich ein System vor, das dem Vorläufer aus dem Harz einen harten Wettbewerb liefern soll.
An der Führungsakademie der Volkswirtschaftlichen Gesellschaft in Bad Harzburg wurde vor 15 Jahren die „Führung im Mitarbeiterverhältnis durch Delegation und Erfolgskontrolle“ entwickelt. Das heißt zum Beispiel: Wenn der Chef seiner Sekretärin einen Auftrag gibt, übernimmt sie für ihn diese Arbeit. Er hat sie delegiert. Ob sie die ihr übertragene Aufgabe dann aber auch richtig ausführt, das zu kontrollieren ist nach wie vor die Sache des Chefs. Denn er bleibt dafür verantwortlich, daß der Auftrag erledigt wird.
Mit Hilfe von Stellenbeschreibungen werden die Tätigkeiten in großen Organisationen (also auch Unternehmen) so überschaubar gemacht, daß jeder weiß, was er zu tun und zu lassen hat, wofür er Verantwortung trägt und wofür er sie weitergibt. Dieses System wirkte für viele Unternehmen in der Bundesrepublik bahnbrechend.
Zum Vorwurf wird ihm heute seine Abhängigkeit von einer streng gegliederten Firmenhierarchie gemacht. Man bezeichnete das Modell als zu unbeweglich, weil es für jede Arbeitskraft genaue Richtlinien voraussetzt. Aber es gab fast nichts Vergleichbares. Das Harzburger Führungssystem, vor 15 Jahren praktisch im Sandkasten aufgebaut, erntete internationale Anerkennung. Neue Ideen ähnlicher Art hatten weniger Echo in den Manageretagen.
Doch dem St. Galler Professor Hans Ulrich und seinen Betriebswirtschaftsstudenten ist die Harzburger Lehre zu eng, zu geschlossen. Sie beschränkt sich im wesentlichen auf führungstechnische Anweisungen. Sie wollen dem Management à la Harzburg ein „offenes Modell“ entgegensetzen.
Das Rezept für ein erfolgreiches Management nach Schweizer Art beschränkt sich deshalb nicht auf eine betriebliche Funktion; nämlich die Führung, sondern erfaßt das ganze Geschehen in einem Betrieb. Ulrichs Schlüsselwort heißt „systemorientiertes Denken“.
Der Bestimmung der Zielsetzung gilt das erste der Hauptelemente: das Unternehmensmodell. Gerade unter diesem Aspekt nennt Ulrich „die meisten der heute angebotenen Modelle unvollständig“. In solchen Fällen fehlt es an Führungsgrundsätzen für die Mitarbeiter, die bestehende Organisationsstrukturen mit Leben erfüllen sollen.
Das Führungsmodell ist das zweite wichtige Element; denn es gilt dem Mitarbeitereinsatz, entspricht also dem von Harzburg erfaßten Bereich. Weitere Elemente aus dem Management-Baukasten: ein Organisationsmodell, das die Unternehmensstruktur bestimmt, und die Führungsmethoden, die Problemlösungen erleichtern sollen. Alle diese Modelle gehören zusammen, lassen sich ergänzen oder auch beschränken.
Die St. Galler Modellbauer versichern, die Elemente ihres Systems seien nach dem Baukastenprinzip auswechselbar, da sie alle einem einheitlichen Systemansatz unterworfen sind. Und sie betonen den interdisziplinären Charakter des gesamten Managements.
In St. Gallen wird weniger hierarchisch gedacht als in Bad Harzburg. Die Schweizer ziehen deshalb absolut flexible Organisationsformen vor, mit deren Hilfe die Schwerpunkte verschoben werden können. Als Orientierung dient immer das Unternehmensziel.
Aber auch hier gilt laut Ulrich: „Erst mit der Kontrolle schließt sich der Führungskreis.“ Darauf kann man in St. Gallen ebensowenig verzichten wie in Harzburg. Das heißt, daß die Gedankenarbeit wichtig bleibt, die im Hinblick auf das Ganze geleistet wird.
Hans Ulrich bringt das auf die folgende Formel: „Wir können uns in der Betriebswirtschaft nicht mit der Frage begnügen, wie Systeme und Prozesse gestaltet werden können. Wir müssen auch die Frage beantworten, welche Ziele dann gesetzt werden oder werden sollten.“
Managementprobleme haben die Eigenschaft, daß sie sich nicht in einzelne wissenschaftliche Disziplinen einordnen lassen. Sie sind interdisziplinär. Zu ihnen gehören Soziologie und Psychologie, die klassischen Wirtschaftswissenschaften wie auch Mathematik und Philosophie. Die St. Galler sind sich dessen wohl bewußt – und haben noch eine weitere Konsequenz daraus gezogen.
Sie bieten nicht nur ihr Modell an, sondern (genau wie Harzburg) auch die dafür unerläßliche Schulung der Manager. Denn die Chefs sollen leistungsfähiger werden. Und zwar nicht nur die Herren der oberen Etagen, sondern die ganze Breite des Managements. Das Motto in St. Gallen: „In der demokratischen Gesellschaft ist Management nicht mehr das Privileg einzelner, sondern Aufgabe von Hunderttausenden von Führungskräften.“
So viele wie möglich von ihnen möchte man in St. Gallen vom Wintersemester 1972/73 an schulen. Das soll in einem vierzehntägigen Grundkurs geschehen, der Ordnungssysteme, Grundwissen und Problemlösungsverfahren vermittelt. Ihm schließen sich – dem Baukastenprinzip entsprechend – für die verschiedenen Gebiete und Anforderungsstufen Folgekurse an, die wahlweise ergänzt werden können.
Auch an einen dreitägigen Kursus für „echtes Top-Management“ ist gedacht. Ulrich glaubt nämlich, daß eine „falsche Entwicklung stattgefunden hat“, indem die Stäbe das Managementwissen gepachtet haben. Nach seiner Überzeugung müssen sie vom Chef selbst und unmittelbar gelenkt werden.
Der denkaktive Schweizer Professor gibt unumwunden zu, daß die Mittel seines Betriebswirtschaftlichen Instituts niemals ausgereicht hätten, um die von seinen Studenten und Mitarbeitern betriebenen Forschungen durchzuführen und daraus auch praktische Konsequenzen zu ziehen. Doch Ulrich fand Unterstützung: 20 Schweizer Firmen stifteten fürs erste je 40 000 Schweizer Franken.
Das Institut ist stolz darauf, diese Summe innerhalb eines Monats durch eine schlichte Briefaktion aufgebracht zu haben. „Dafür mussten wir weder antichambrieren noch uns Bedingungen auferlegen lassen“, betont Ulrich. Eine Erfahrung, die in krassem Gegensatz zu der schweren Arbeit steht, mit der vor vier Jahren das Unternehmensseminar für die Wirtschaft (USW) in Köln aus der Taufe gehoben wurde.
Die St. Galler Studenten und ihr Professor aber versprechen sich von ihrem Modell mehr als einen Markterfolg. Sie hoffen, daß davon auch eine „formierende Kraft“ ausgeht. Die Unternehmung als „produktives soziales System“, wie sie Hans Ulrich interpretiert, wird allerdings in Zukunft die Zielkonflikte des Managements nicht etwa erübrigen, sondern eher institutionalisieren.
War die ausschließliche Orientierung am Gewinn bereits schwierig, so wird sie als Bezug auf das gesamte System ein Kunstwerk – und dennoch unvermeidlich. Denn die Produktionsgesellschaft will überleben. Das bedeutet, daß in der Leitung großer Unternehmen sowohl privatwirtschaftliche als auch staatliche Forderungen Priorität genießen. Angesichts solcher Entscheidungen will das St. Galler System ein Wegweiser sein. Das jeweils optimale Ziel allerdings können auch die Schweizer Management-Reformer nicht liefern.
Rüegg-Stürm & Grand bemerken richtig, dass das St. Galler Management Modell der 4. Generation inhaltlich wieder an das St. Galler Management Modell der 1. Generation anschliesst. Natürlich aufgeladen mit einer Fülle neuer Erkenntnisse aus Wissenschaft und Forschung zum Thema Management. Dabei wurde auch sorgfältig über den sprichwörtlichen Tellerrand geschaut, um eine höchstmögliche Gewähr für Vollständigkeit und Ganzheitlichkeit zu gewährleisten. Womit auch die aktualisierende Erneuerung Tatsache wird.
Aber der Kreis schliesst und erneuert sich auch noch in anderer Hinsicht: Schon Hans Ulrich zeigte innovativen Mut, als er 1972 mit dem St. Galler Management Modell der 1. Generation gegen das etablierte Harzburger Führungsmodell antrat. Diese spezielle, ursprüngliche Geisteshaltung findet sich nun auch im St. Galler Management Modell der 4. Generation von Rüegg-Stürm & Grand wieder.
Rüegg-Stürm & Grand zeigen sich damit als Traditionalisten im besten Sinne: Innovativ und konstruktiv das St. Galler Managementdenken weiter entwickelnd. Dabei dieses nach rund 45 Jahren (1972 – 1917) bewusst auf die gedanklichen Wurzeln desselben zurückführend, wie sie schon von Hans Ulrich gelegt worden sind.
Der Wert dieser Rückführung des St. Galler Management Modells auf seine Wurzeln wie von Rüegg-Stürm & Grand vorgenommen, ist nicht zuletzt für dessen Aktualität und Vitalität von hoher Bedeutung. Bedeutet es doch nichts anderes als eine Rundum-Erneuerung desselben, ohne seinen grundsätzlichen Charakter zu verändern.
Oder um es mit den Titelworten dieses Artikels zu sagen: „Das St. Galler Management Modell reloaded.“
Steffen Sutter, 12. August 2020
Letzte Aktualisierung: 04. September 2020
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